Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika

Buchpräsentation als Performance: The Gun of Null Vier

Das Haus der Kulturen der Welt ist eine architektonische Schönheit. Am Ufer der Spree in Berlin gelegen, verleihen die geometrischen Formen des Gebäudes, die weitläufige Rasenfläche und die Wasserelemente ihm eine beruhigende Ausstrahlung. Seine Bedeutung als Ort kultureller Sensibilität macht es zum perfekten Ort für die Präsentation von Ixmucané Aguilars neuem Buch mit dem Titel The Gun of Null Vier. Even Friday’s Sun Sets. Ironischerweise liegt das Gebäude nur zehn Minuten zu Fuß vom Deutschen Bundestag entfernt – einem Gebäude, das die Quelle so vieler Traumata für die Nama und OvaHerero darstellt, deren Vorfahren vom deutschen Kolonialregime beinahe ausgelöscht wurden und die seit Jahrzehnten dafür kämpfen, dass die deutsche Regierung den an ihnen begangenen Völkermord vollständig anerkennt.

Ixmucané Aguilar kennt dieses Trauma, sie fühlt mit, sie ist empathisch. Sie stammt aus Guatemala, wo zwischen 1981 und 1983 schätzungsweise 162.000 Menschen, darunter 134.600 indigene Maya, im stillen Genozid getötet wurden. Ixmucané versteht es. Als sie zum ersten Mal von dem Völkermord in Namibia von einigen namibischen Freunden hörte, klang ihre Geschichte in ihrer eigenen Erfahrung wieder. Diese geteilten Erfahrungen motivierten sie dazu, ihre Möglichkeiten als angesehene bildende Künstlerin und Designerin zu nutzen, um mehr Aufmerksamkeit auf die realen Menschen zu lenken, die vom Völkermord betroffen sind.

Zwischen 1904 und 1908 massakrierte die deutsche Kolonialregierung in Namibia bis zu 100.000 Menschen, hauptsächlich Nama und OvaHerero, aber auch andere ethnische Gruppen wie die Damara, Khoisan, Kavango und Baster waren durch Gewalt, Versklavung und Vertreibung betroffen. Es ist leicht, sich in den Zahlen zu verlieren, eine Gefahr, der sich Ixmucanés Werk bewusst zu sein scheint. Ihr Buch, das aus einer Sammlung eindrucksvoller Porträts und Erzählungen besteht, dokumentiert die Nachfahren der Nama und OvaHerero und wie die Taten des kolonialen Deutschlands vor über einem Jahrhundert bis heute in den Gedanken und im Bewusstsein eines Volkes nachhallen. Viele der Fotos im Buch zeigen Männer und Frauen in farbenfroher traditioneller Kleidung, deren Kleidung im Widerspruch zu ihren ernsten Gesichtern steht. Ihre Erzählungen sprechen von Trauer und Kummer, eingefangen durch Trauerrituale, mündliche Überlieferungen der Gräueltaten und persönliche Zeugnisse.

Die Buchpräsentation, die an einem Samstagabend in Berlin stattfindet, ist gut besucht. Weil ich spät ankomme, finde ich keinen freien Platz mehr. Der für die Präsentation genutzte Raum befindet sich in einem offenen Bereich des Gebäudes. Die Decke wölbt sich hoch, gestützt von Säulen, und öffnet sich zu einer oberen Etage, die über eine Treppe zugänglich ist, wo ein übergroßes Exemplar des Buches für die Besucher:innen zum Durchblättern ausgestellt ist. Es ist umgeben von acht oder vielleicht zehn Lautsprechern auf Ständern, durch die die Stimmen der Nachfahren der Nama oder OvaHerero zu hören sind, die sich an diesen Teil ihrer Geschichte erinnern. Ähnlich bruchstückhaft, wie es die menschlichen Überreste toter Nama- und OvaHerero - Opfer des Völkermords – waren, die zerstückelten in Kisten nach Deutschland zu Forschungszwecken schickt worden sind. Manche hatten ihre Haut abgezogen und wurden nur als Knochen versandt. Die Präsentation von The Gun of Null Vier. Even Friday’s Sun Sets hingegen bringt die Nama- und OvaHerero-Menschen so vollständig wie möglich nach Deutschland, indem sie sie als eindrucksvolle Bilder auf Papier verewigt und ihnen durch das Teilen ihrer Stimmen Leben einhaucht.

Auch andere Stimmen sind zu hören. Sima Luipert – eine Menschenrechtsaktivistin, deren eigene Urgroßmutter unmittelbar nach dem Völkermord zur Zwangsarbeit gezwungen wurde, Wolfgang Kaleck – ein Menschenrechtsanwalt und Gründer des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), und Dr. Ellison Tjirera – ein Menschenrechtsaktivist und Dozent an der Universität von Namibia, nehmen an einer Podiumsdiskussion über das Buch und den Völkermord teil. Sie teilen jeweils ihre  Einsichten über die Arbeit, die Ixmucané geleistet hat. Wir alle hören zu. Irgendwann schaue ich nach rechts. Drei junge Leute, gekleidet in Schwarz und mit Ketten behangen, die offenbar gerade von der Rave-Party im Garten gegenüber dem Haus der Kulturen der Welt hereingekommen sind, sitzen auf dem Boden hinter den besetzten Stühlen. Derjenige, der mir am nächsten ist, hat seine Knie hochgezogen, die Arme daraufgelegt und die Hände verschränkt. Er lehnt sich nach vorne und hört den Podiumsteilnehmer:innen gebannt zu. Wahrscheinlich sind sie hereingekommen, um die Toilette zu benutzen und blieben dann wegen der Geschichte. Es gibt mir Hoffnung, dass sie Sima sagen hören:

„Auch wenn die deutschen Archive zerstört oder unzugänglich sind, bin ich das Archiv, das niemals zerstört werden kann, weil meine Geschichte von meinen Töchtern Pokkel und Ndaya erzählt wird, so wie ich die Geschichte von Oumama und Magdalena erzählen werde, so wie die Frauen auf den Bildern ihre Geschichte durch Ixmucané erzählt haben.“

Auch junge Menschen haben Handlungsmacht. Frauen ebenso wie Männer. Namibier:innen ebenso wie Deutsche oder Guatemalteker:innen. Die Präsentation, die Podiumsdiskussion und die Aufführungen davor und danach beweisen das. Prince Kaamazengi Marenga, ein in Deutschland lebender namibischer Dichter, trägt ein fesselndes Spoken-Word-Stück vor. Normalerweise mag ich keine Poesie, aber er verwebt das Gefühl, verfolgt zu werden und dennoch irgendwie stolz und trotzig zu bleiben, in Versen, Bewegung und Gesang. So groß wie er ist, bewegt er sich anmutig hin und her über die Bühne. Wenn er stampft, hallt der ganze Raum wider. Sein Gedicht geht nahtlos in eine Performance von Nesindano Khoes Namise über. Sie hat den rötlich-braunen Erdmineral Ocker, bekannt als Otjize, mitgebracht, den sie mit etwas anderem mischt und dann auf ihr Gesicht reibt. Sima flüstert mir ins Ohr. „Das ist Parfüm“. Ah. Das Parfüm, das die Frauen Namibias in kleinen Schildkrötenschalenfläschchen bei sich tragen. Das Parfüm, das Nesindano von ihrem Gesicht auf weiße Papierbögen abwischt, die auf den Boden geklebt sind. Als sie fertig ist, sind die weißen Bögen blutrot befleckt, als ob sie die Schuld des Kolonialismus symbolisieren sollen. Gegen Ende ihrer Performance startet sie ein Spiel von „Stille Post“ mit dem Publikum, indem sie zum Nachdenken anregende Fragen stellt, die wir uns gegenseitig weitergeben und individuell verarbeiten. Die Performance ist vorbei, der offizielle Teil des Programms ist zu Ende, und die Gäste gehen oder bilden kleine Gruppen. Doch der Kampf für Gerechtigkeit geht weiter, verkörpert in diesen Worten:

„…Ich bin das wandelnde Archiv, das sich in diesem Kleid aus Lumpen widerspiegelt, so wie Oumama ihr Kleid aus den von den deutschen Herren zurückgelassenen Lumpen schuf, um die Geschichte des Überlebens zu erzählen.“ – Sima Luipert, 17. August 2024

Aguilar, Ixmucané: Ondjembo yo Null Vier. The Gun of Null Vier. Fraitaxtsēs sores tsîn ge ra≠gâ. Even Friday’s Sun Sets, Archive Books, Berlin 2024.