Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika

Südafrika im 25. Jahr seiner Demokratie. Das ANC-Dilemma

Das KASA-Team besuchte Südafrika von Mitte bis Ende März. Es war fast ein Monat vor den Parlamentswahlen, welche mit großer Spannung erwartet wurden. Die Plakate politischer Parteien schmückten die Straßen in den Städten und auf dem Land. Entsprechend drehten sich viele Gespräche um die Wahlen, auch bei den Organisationen, die KASA besucht hat.

Eine der am meisten diskutierten Fragen, war die danach, wie der ANC nach 25 Jahren Demokratie und einer sehr enttäuschenden Bilanz abschneiden würde. Dass diese historische Partei die Wahlen gewinnt, daran gab keine Zweifeln. Spannend wurde die Frage diskutiert, ob die ANC-Allianz mit COSATU und der Kommunistischen Partei Südafrikas zum ersten Mal seit Einführung der Demokratie einen Partner brauchen würde, um weiterhin regieren zu können. Argumente gegen eine  Mehrheit des ANC lagen auf der Hand: Das Massaker von Marikana, das auf Südafrika und auf den aktuellen Präsidenten immer noch seine Schatten wirft, die Arbeitslosigkeit, die mit 40 % auf Rekordniveau  steht, die Stromausfälle, die sowohl Industrie als auch Haushalte zu schaffen machen, der desolate Zustand sowohl der Provinz- als auch der lokalen Regierungen bis auf ein paar Ausnahmen, die systemische Korruption, die unter Jacob Zuma und den Guptas unbeschreibliche Dimensionen erreicht haben. Im Civil Society Manifesto As Declaratory Statement of the National Convention of South Africa Process (November 2017 – March 2019), das Bischof Malusi Mpumlwana, Generalsekretär des South African Council of Churches und Vorsitzender des National Convention Steering Committee dem KASA-Team vorstellte, wird die Diagnose der Südafrikanischen Situation so prägnant auf den Punkt gebracht: "Das Südafrika, in dem wir heute leben, 25 Jahre nach Nelson Mandelas Versprechen einer "vereinte, nicht-rassischen, nicht-sexistischen, demokratischen und wohlhabenden Gesellschaft", ist weit entfernt von dieser Vision. Wir sind eine polarisierte Nation – räumlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch gesehen. Die Kosten für Korruption und Misswirtschaft für arme Gemeinschaften sind enorm und werden lange Zeit und harte, bewusste systemische Arbeit erfordern, um sie anzugehen und zum Besseren zu verändern".

Die Wahrnehmung von Korruption wurde dadurch verstärkt, dass die Zondo, Mokgoro, Nugent und Mpathi Untersuchungskommissionen[1], die sich alle mit Korruption und Staatsvereinnahmung auf nationaler Ebene auseinandersetzen, quasi jeden Tag auch während der Wahlkampfperiode neue Beweise gegen Hauptfiguren des ANC lieferten, während die Stromausfälle das Versagen des ANC tagtäglich im Straßenverkehr, im Arbeitsalltag, in den Planungen zu Hause spürbar waren. Schlechter für den ANC hätte das nicht laufen können.

In diesem Kontext schien die gesicherte Erkenntnis, dass der ANC die bevorstehenden Wahlen auf jeden Fall gewinnt und dass es nur um die Höhe des Sieges gehen wird, absurd, aber im südafrikanischen Kontext verständlich. Einer der Hauptgründe dafür ist im Zustand der Opposition zu suchen: trotz des Schadens, den der ANC dem Land zugefügt hat, stellt die südafrikanische Opposition für den ANC immer noch keine ernsthafte politische Bedrohung dar. Gründe dafür sind vielfältig, auf einige wird im Lauf dieses Artikels eingegangen. Ein wichtiger Grund für die oben beschriebene Dynamik der politischen Landschaft ist jedoch der ANC selbst.

Bevor er für Südafrika zur Bedrohung wurde hat sich der ANC selbst geschadet. Die neun Jahre mit Zuma als Partei- und Regierungschef werden in Südafrika in Anspielung auf die durch die Strukturanpassungsprogramme des IWF und Weltbank gegenüber Entwicklungsländern geprägten 1980er Jahre als das verlorene „Jahrzehnt“ beschrieben. Selbst Ramaphosa sprach von Zumas Amtszeit als verlorene Jahre, wobei er selbst an den letzten vier dieser Jahre beteiligt war. Gelang es jedem seiner Vorgänger seinen Namen mit zumindest einem positiven „Erbe“ zu verknüpfen, so verbindet man mit J. Zuma meistens nur Korruption, Patronage-System, State Capture etc. Mandela wird trotz aller Kritik an zu weit gehenden Konzessionen gegenüber „Kapital- und Finanzzentren“ eine Versöhnungsagenda zugeschrieben, mit Mbeki verbinden SüdafrikanerInnen ein starkes Wirtschaftswachstum, auch hier trotz Kritik an seiner fehlenden Inklusivität und an fehlenden positiven Wirkungen auf Beschäftigung und Kgalema Mothlante geht in die Geschichte, als einer, dem es gelang, Partei und Land nach einer starken Partei- und Staatskrise zu stabilisieren. Dies bedeutet nicht, dass unter den drei ersten Staatschefs Missstände wie ineffiziente Verwaltungen und Korruption nicht existierten. All das war schon da und Zuma selbst ließ von sich reden in Verbindung mit Korruption lange bevor er Präsident wurde. Der Unterschied besteht darin, dass unter Zuma ein verhärteter Eindruck entstand, dass  jede Orientierung des Staates am Gemeinwohl progressiv verschwand und dass fast alle Staatsinstitutionen mit Ausnahmen von Teilen des Justizsystems und der Institutionen des neunten Kapitels der Verfassung nur noch als Erfüllungsgehilfen für die Privatinteressen der Zuma-Familie, ihrer Alliierten in Unternehmen und Provinzregierungen und ihrer Hintermänner (Guptas) fungierten. Nachdem Zuma im Dezember 2018 scheiterte, seine Ex-Frau und Wunschkandidatin Nkosizana Zuma für den Vorsitz der Partei durchzusetzen und er selbst Anfang dieses Jahres seinen Posten als Staatschef zugunsten Ramaphosas räumen musste, gab er sich nicht geschlagen. Er versuchte seinen Nachfolger zu destabilisieren, indem er seine Alliierten in den führenden Gremien des ANC nutzte. In diesem Kontext wurde Ramaphosa zum Reformer stilisiert,  der den ANC und das Land retten will. Auf einem Internetforum nach den Wahlen war folgende interessante Überlegung zu lesen, die diese Wahrnehmung Ramaphosas unterstreicht: „wenn Sie für die Opposition gestimmt haben, sind Sie gegen die Cyril Ramaphosa-Reform. Er sucht während dieser sensiblen Zeit in unserem Land nach Unterstützung ("er ist die wirkliche Opposition innerhalb des ANC, die tatsächlich etwas tun will, als nur "Antrag zur Geschäftsordnung" zu schreien!), und wir müssen allen danken, die normalerweise einmal für die Opposition stimmen würden, aber dieses Mal Cyril Ramaphosa unterstützt haben! Danke, dass Sie Ihr demokratisches Recht mit viel Weisheit nach langer Recherche genutzt haben! Ihr seid die "Denker" in unserer Demokratie.“ In der Tat waren viele solcher Stimmen in unseren Gesprächen in Südafrika zu hören. Viele waren der Meinung, dass nur ein gutes Wahlergebnis des ANC Ramaphosa stützen und ihn darin stärken würde, die korrupten Elemente in der Partei und im Regierungsapparat zu entmachten. Es war ein fast offener Appel, aus taktischen Gründen dem ANC eine letzte Chance einzuräumen und diese taktischen Überlegungen waren und sind damit verbunden, dass Ramaphosa zugetraut wird, Südafrika wieder auf die richtigen Spuren zu bringen. Dies war selbst bei vielen unserer Partnerorganisationen zu vernehmen, die sich in den letzten zehn Jahren deutlich vom ANC distanziert haben. So war es bei der Bekanntgabe der Ergebnisse nicht wirklich überraschend, dass dieser ANC mit 57,60 Prozent der nationalen Stimmen und acht von neun Provinzen mit einer klaren Mehrheit gewann.

Opposition ohne Alternativen?

Über die taktischen Überlegungen verbunden mit Vertrauenskapital in Ramaphosa hinaus gilt es auch den Zustand der Opposition zu thematisieren. Dass sie von ANCs Unfähigkeit nach 25 Jahren angesichts von Rassismus, Ungleichheit, schwacher ökonomischer Leistung, hoher Kriminalität und großer Unzufriedenheit der Mehrheit der Bevölkerung, die sich in zu Routinen gewordenen Protesten niederschlägt, überzeugende Antworten zu formulieren, nicht nennenswert profitieren kann, zeigt, dass sie selbst auch keine mobilisierenden Ideen hat. Es entsteht ein Eindruck, dass nur der ANC es richten kann. Die Tatsachen , dass die Democratic Alliance (DA) zum ersten Mal seit 1999 einen Rückgang am Stimmenanteil erlitten hat und dass die EFF deutlich hinter den eigenen Erwartungen und ihren Mobilisierungskapazitäten zurückbleibt, sollten beide Hauptoppositionsparteien zu denken geben. Die DA steckt in einem Dilemma: für viele schwarze Wähler*nnen ist sie nach wie vor nicht wählbar, weil sie einerseits trotz ihrer liberalen Herkunft nach ihrer Gründung zur Heimat vieler Mitläufer, einiger der Architekten und Komplizen der Apartheid wurde. Andererseits sehen in ihr die extremsten Elemente unter den Architekten und Komplizen der Apartheid keine politische Heimat mehr und haben sich bei den diesjährigen Wahlen der Afrikaner-Partei Freedom Front Plus angeschlossen, die in Fragen wie Landreform radikale partikulare Interessen auf eine Weise vertritt, die sich die DA nicht mehr leisten kann. Daher die Frage, die in Südafrika nach den Wahlen diskutiert wird, ob die DA möglicherweise 2014 ihr Potential an Wählerstimmen ausgeschöpft hat. Was die Economic Freedom Fighters (EFF) anbelangt, hat sie auch trotz steigender Zahlen seit ihrer ersten Teilnahme an den Wahlen 2014 wenige Gründe zu zelebrieren. Sie füllt Stadien in allen Provinzen und produziert mit den roten Uniformen ihrer Mitglieder beeindruckende Bilder. Diese Mobilisierung lässt sich jedoch nur unterproportional in zählbaren Stimmen niederschlagen. Es scheint, dass Südafrika die EFF braucht, um Kontrolle auf allen Ebenen der Verantwortung zu beleben. Eine Regierungsverantwortung trauen der Partei nur die wenigsten Menschen zum jetzigen Zeitpunkt zu. Manche ihrer Ansätze schrecken Wähler*innen ab und viele ihrer potentiellen Wähler*innen, sind durch das Nicht-Registrieren den Wahlen ferngeblieben. Sollte das aktuelle Tempo ihrer Fortschritte anhalten, wird sie noch lange auf eine Regierungsverantwortung warten müssen. Ob es dann gelingt, die Mobilisierung hoch zu halten, bleibt eine offene Frage. Fazit: Beide große Oppositionsparteien haben es nicht geschafft, Optionen auf dem Tisch zu legen, die alte ANC-Wähler*innen zu ihnen ziehen und neue Wähler*innen zu mobilisieren. Dadurch haben sie dazu beigetragen, das politische Feld für die Partei der Nicht-Wähler*innen leicht zu machen. Es schien als gäbe es wenige Gründe,  Menschen zu beschuldigen, die es nicht verkraften konnten, wählen zu gehen.

Wahlbeteiligung – Ein Denkzettel für die politische Klasse

Eine der wichtigsten Fragen im Vorfeld dieser Wahl war die Wahlbeteiligung. Anlass zu dieser Diskussion war die Hohe Zahl der in Wählerlisten nicht registrierten Erwachsenen. Es wurde auch darüber diskutiert, angesichts der vielen Proteste im Lande auch während des Wahlkampfs,  ob Menschen, die im Laufe der Jahre den Eindruck gewonnen haben, dass nicht Wahlen, sondern nur gewaltsame Proteste ihnen Gehör verschaffen, zur Wahl gehen würden. Mitte April waren es mehr als 25 Orte im ganzen Land, an denen aus verschiedenen Gründen zum Teil gewalttätig demonstriert wurde. Trotz dieser bereits im Vorfeld erkennbaren Tendenzen der Wähler*innen war der Schock groß, als die Nationale Wahlkommission Südafrikas, die IEC, die Wahlbeteiligung bekannt gab. Laut ihren Statistiken sind in Südafrika zurzeit 36,5 Millionen Menschen wahlberechtigt, aber nur 26,7 Millionen haben sich registrieren lassen. Das bedeutet etwa 9,8 Millionen SüdafrikanerInnen, die wahlberechtigt, aber nicht registriert sind. Von den 26,7 Millionen Regiestrierten haben 9,7 Millionen beschlossen, nicht abzustimmen. Darüber hinaus berichtete die Wahlkommission darüber, dass mehr als eine Viertelmillion Menschen ihre Stimmzettel scheinbar bewusst ungültig gemacht haben, was als eine der härtesten Formen von Protest gegen das etablierte politische System interpretiert wurde. Die Kombination aus Nichtregistrierten, ungültig gemachten Wahlzetteln und geringer Wahlbeteiligung ergibt ein alles andere als schmeichelhaftes Bild, das den Sieg des ANC in seiner Bedeutung deutlich verwässert: Die Partei hat zwar gewonnen, aber sie wurde nur von 27 Prozent der erwachsenen SüdafrikanerInnen gewählt. Diese Wirklichkeit sollten der ANC und andere politische Kräfte in Südafrika erst nehmen und entsprechend Reparaturarbeit leisten.

Ausblick

Der Sieg des ANC wird von vielen politischen Analyst*innen als die letzte Chance für diese Partei interpretiert, zu regieren ohne eine Koalition mit der bisherigen Opposition bilden zu müssen. Die Erwartungen sind groß: Beendigung von Korruption, Wiederbelebung staatlicher Institutionen auf nationaler, provinzialer und lokaler Ebene, Schaffung von Millionen Arbeitsplätze etc. All dies verlangt von Ramaphosa, das eigene Haus in den Griff zu bekommen. Seit mehr als zehn Jahren versprechen die Verantwortlichen des ANC, die Partei erneuern zu wollen. Die Situation wurde bis Dezember 2018 immer schlimmer. Gelingt es nicht, in den nächsten Jahren Partei und Regierung auf das Gemeinwohl auszurichten, wird der ANC mit immer mehr und heftigeren Protesten und damit auch mit mehr Verlusten bei den nächsten Kommunalwahlen rechnen müssen, die für 2021 geplant sind. Was die Opposition angeht, zeigen die Wahlergebnisse in diesem Jahr, dass auch sie sich von ihrer Ideenlosigkeit befreien muss, um den ANC nicht im Blick auf Personal, sondern mit alternativen Ideen herausfordern zu können. Raum für einen neuen politischen Ansatz und Potentiale für die Mobilisierung der Bürger*innen sind da. Es gilt, mit entsprechenden Strategien diesen Raum zu besetzen und diese Potentiale zu entfalten.

 

 

 


[1]3rd Session of the National Convention of South Africa: Civil Society Manifesto Launch, S. 1.